Geschichten, Episoden und Anekdoten aus dem Landkreis Haßberge - Ludwig Leisentritt erinnert sich an ein besonderes Erlebnis
Im November 1958 fand mit dem damaligen Hamburger Bundestagsabgeordneten Helmut Schmidt im Göllersaal die bis dahin größte Kundgebung in Zeil statt. Ich war damals bereits Vorsitzender der Zeiler Jusos, der SPD-Jugendorganisation und erhielt von meinen Genossen den Auftrag, den als "Schmidt-Schnauze" apostrophierten Politiker unterhalb des Marktplatzes abzufangen und ihn zum Göllerssal zu lotsen.
Der spätere Bundeskanzler reiste mit einem DKW mit Hamburger Nummer. Schmidt saß selbst am Steuer und kam wegen einer Autopanne bei Lohr erst gegen 21 Uhr in Zeil an. Neben dem Politiker saß eine Frau - seine Frau, dachte ich fälschlicherweise. Als ich Helmut Schmidt zum Göllersaal gebracht hatte, eröffnete er mir: Wir übernachten in Zeil. Besorge uns bitte ein Nachtquartier. Ich dachte sofort an das Gasthaus Hertlein, wo ich dann auch ein Doppelzimmer für „das Ehepaar Schmidt“ bestellte. Zu dieser Zeit hatte es in Zeil kaum komfortablere Gästezimmer gegeben. Schließlich war das Gasthaus „Zur Stadt Zeil“ schon vom Namen her eine gute Adresse.
Nach seiner temperamentvollen Rede durfte ich – gerade mal fünf Monate der SPD angehörig - am Vorstandstisch den Gesprächen mit Schmidt lauschen. Die Hamburger mögen zwar etwas spröde sein, aber ihre Frauen siezen sie wohl nicht, kombinierte ich ganz richtig. Ein Parteifreund klärte mich dann auf, daß seine Begleiterin nicht sein Eheweib Loki, sondern seine Sekretärin ist. Ziemlich aufgeregt rannte ich zu Karl Hertlein, um meinen Fehler zu korrigieren. Ein Glück, daß zu so später Stunde noch zwei Einzelzimmer frei waren, so daß Helmut Schmidt meinen Missgriff nicht bemerkte.
Helmut Schmidt war bislang der einzige prominente SPD-Politiker, der in Zeil übernachtet hat. Obwohl er damals noch kein Kanzler war, habe ich dem heutigen Inhaber der „Stadt Zeil“ immer wieder mal den Vorschlag gemacht, eines seiner Zimmer doch als „Kanzler-Sweet“ zu vermieten. Doch Rainer Hertlein ist bis heute nicht darauf eingegangen.
Erst in jüngster Zeit wurde bekannt, dass die damalige Begleiterin seine Sekretärin Ruth Loah war, die schon seit 1955 in seinen Diensten stand. Nach dem Tod von Loki Schmidt erlebte der Altkanzler einen zweiten Frühling. Seine neue Lebensgefährtin war just die Frau, die 1958 ihren Chef nach Zeil begleitet hatte. Vor einigen Jahren bekannte Schmidt, „ohne Ruth wäre ich nicht mehr da.“ Sie habe sich fürsorglich um ihn gekümmert und ihn auch überredet, auf einen Rollstuhl umzusteigen.
Übrigens: Der spätere Bundeskanzler begab sich nach der Kundgebung bei Göller nicht gleich ins Bett, sondern spielte in der Wirtsstube bei Hertlein mit den Zeiler Parteifreunden Anton Pottler, Erwin Rausch und Georg Hoffmann noch einige Runden Schafkopf. Die Heimatzeitungen stellten damals besonders eine Redepassage in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung: „Die Demokratie lebt so lange, wie Demokraten vorhanden sind und sich die Staatsbürger um ihren Staat kümmern!“ Dieser Satz ist heute vielleicht noch aktueller als vor 57 Jahren.
Ludwig Leisentritt und Heiner Schneier haben Helmut Schmidt später noch häufig getroffen. Ersterer berufsmäßig als SPD-Geschäftsführer auf Parteitagen und Konferenzen. Letzterer als Delegierter bei solchen Veranstaltungen.